„21, 22, 23…“ Ich zähle die Sekunden bis zum Donner. Eine knappe halbe Minute vergeht, das Gewitter scheint weit weg zu sein, aber wir haben auch noch mindestens vier Kilometer zu laufen. Ich zähle weiter und unser Ziel ist die Bundesstraße B1/5, die es in der Nähe von Müncheberg zu queren gilt.

Der Tag war drückend heiß. Wir waren uns einig, erst nach einem ausgedehnten Abendessen in die Nacht hineinzulaufen. Es war zwei Uhr, als wir die am Tage so stark befahrene Bundesstraße erreichten. Um diese Zeit kein Auto, kein Lkw in Sicht, die Querung ein Kinderspiel.  Auf der anderen Straßenseite überklettern wir die Leitplanke.

Ratsch! Ich bin an einer scharfen Kante hängengeblieben. Erst im gellenden Licht des nächsten Blitzes sehe ich den großen Dreiangel in meiner Tarnhose. Mist! Ich war so stolz auf diese spezielle Hose, die ich auf einem Markt in Belarus gekauft hatte.

Ich habe keine Zeit, mich zu ärgern. Es beginnt in diesem Moment, mit größter Heftigkeit zu regnen. Die drückende Schwere der Sommernachtsluft ist verschwunden.
Wir machen uns erst gar nicht die Mühe Regenschutz aus den Rucksäcken zu nesteln, der sintflutartige Regen lässt eh nichts trocken.

Mir machen die nassen Klamotten schlechte Laune. Minuten später stehe ich bibbernd endlich im Trockenen. Ich halte eine Ecke des Tarps über meinem Kopf und schaue anerkennend dem geschäftigen Treiben der älteren Scouts zu. Gemeinsam mit Paul verspannen sie das Tarp in den dichtstehenden jungen Ebereschen und Kiefern.

Wie gelingt es meinem Sohn, trotz dieser Extremsituation immer wieder einen Schlafplatz für uns zu finden? Eilig bereite ich das Nachtlager für meinen erschöpften Enkel und mich vor. Die nassen Sachen werden zu einem Haufen geschichtet. Dafür ist morgen noch Zeit.

Zu unserem Glück hat der trockene Waldboden gierig das Regenwasser aufgesogen und wir liegen relativ komfortabel und warm in unseren Schlafsäcken. Ich bin froh, neben meinem Enkel zu liegen, froh hier zu sein. Dem abziehenden Gewitter nachhorchend, bekomme ich wieder einmal eine Antwort auf die immerwährende Frage „Was mach ich hier?“ Wann Paul sich endlich zum Schlafen neben uns legt, bekomme ich nicht mehr mit.

Eine Szene der neunten Etappe von „Jugendscout on Tour“. Es waren nicht die körperlichen Herausforderungen der Tour, die schwüle, drückende Hitze an den ersten Tagen, Gewitter und prasselnder Regen an den letzten. Sondern, die Intensität des Zusammenseins mit neun jungen Menschen, mit denen ich diese eine Woche Ende August teilte.

Die Veteranin der Scouttour ist inzwischen 21 Jahre alt und das sechste Mal dabei, mein Enkel mit seinen frischen 13 Jahren der Jüngste unserer Gruppe zum zweiten Mal dabei. Obwohl ich die Mehrzahl der jungen Menschen ein Jahr nicht gesehen habe, bestimmte bereits warme Vertrautheit unser erstes Treffen in Grützdorf.

Die freundliche offene Atmosphäre in unseren Gesprächsrunden, die Paul jedes Mal subtil und emotional einleitete, waren bestimmend für diese Tour. Einige hatten ihr letztes Schuljahr hinter sich gebracht, andere haben es noch vor sich. Es war berührend ihre Geschichten des letzten Jahres zu hören. Anlass zu individuellen Gesprächen über Lebensentwürfe, emotionalen Verwirrungen, über Gesellschaft und das aktuelle Geschehen.

Wie auf keiner meiner bisherigen Touren habe ich die Reflexionen beziehungsweise Gespräche über Landschaft, Wald und deren Bewohner so intensiv erlebt. Zum Beispiel, die eigentlich markanten Spuren eines Spechtes. Die Technik, eine Kiefer zu schälen, um an die leckeren Larven zu kommen. Das viel zu frühe Laubabwerfen der vor allem jungen Bäume, besonders auffällig bei Ahorn, Eberesche und Robinie oder ausgedörrte Agrarlandschaften.

Paul hat einen lebendigen naturphilosophischen Ansatz erarbeitet, um junge Menschen mit großer Lebendigkeit zu erreichen. Ich hatte mir von meinem Sohn das Buch von Baptiste Morizot „Philosophie der Wildnis oder die Kunst vom Weg abzukommen“ ausgeliehen. Paul hatte mich mit vorgelesenen Zitaten neugierig gemacht.

En’forester, ein altfranzösisches Wort, das sich durch den Sprachgebrauch der Waldläufer von Quebec erhalten hat. Hatten sie ihre Geschäfte in der Stadt erledigt, setzten sie ihren Weg unter freiem Himmel fort. „Morgen ziehe ich weiter, ich gehe mich Einwalden.“ Ein wunderbare Wortfindung, die unser Tun in dieser Woche so poetisch beschreibt.

Das Wort »Natur« ist keineswegs unschuldig; es ist das Markenzeichen einer Gesellschaft, die alles daransetzt, Territorien massiv auszubeuten, als seien sie unbelebte Materie. All dies offenbart, dass unsere Einstellung zur Welt des Lebendigen armseliger ist, als wir uns bewusst machen. Wir sollten nach neuen Formen der Achtsamkeit mit der lebendigen Umwelt und damit mit uns selbst suchen lernen.

Diese Aufgabe wird bei „Jugendscout on Tour“ gelebt. Die Woche hat mich nachdenklich gemacht und mir wieder aufgezeigt, dass unsere Zivilisation ein schwieriges, konfliktreiches und zerstörerisches Verhältnis zu unserer Umwelt hat. Gleichzeitig haben mich mein Einlassen und der Austausch mit den heranwachsenden Scouts hoffnungsvoller werden lassen.

Zum Schluss eine Geschichte aus dem Zen, die ich bei Morizot gelesen habe: Ein Mönch steht im prasselnden Regen, den Rücken zum Tempel gewandt; sein Blick schweift über die Wälder und Hügel. Ein junger Bonze, in sein Gewand eingemummelt, steckt den Kopf durch die Tür des Klosters und ruft zu dem Mönch: “Kommt doch herein, Ihr holt euch ja den Tod!“ Nach einem kurzen Schweigen antwortet der Mönch: „Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich draußen bin!“