Michael ist einer unserer „Ältesten“. Er unterstützt uns in dieser außergewöhnlichen Zeit auf verschiedene Art und Weise: Er kommt regelmäßig zu uns auf den Platz, hört zu und steht mir mit Rat und Tat zur Seite und hat, wie viele andere Menschen auch, nach dem Brief meiner Eltern ein paar Zeilen geschrieben. Danke Michael für deine Perspektive und dein Engagement!
Lieber Paul,
den Brief deiner Eltern habe ich aufmerksam gehört und gelesen. Ich spüre die Liebe und den Stolz, mit denen sie dein Leben betrachten und dich unterstützen. Ich verstehe auch ihren Groll, wenn sie zusehen müssen, wie dir und deiner Wildnisschule der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Dass sie sich in ihrer Sorge an die Menschen wenden, die dich und deine Arbeit in der Wildnisschule schätzen und lieben, passt zu der offenen persönlichen Art, mit der du die Wildnisschule leitest. Du kannst dich glücklich schätzen, deine Eltern an deiner Seite zu wissen.
Also alles d’accord? Nein, nicht alles.
Ihr persönliches Schreiben ist auch ein politisches Statement und darf als solches behandelt werden. Ich sehe Resonanzen und Misstöne. Um zum Letzteren nur einen Punkt zu nennen: ich lebe nicht in einer Gesellschaft, in der es „ausschließlich ums Geld geht“. Ich bin Teil dieser Gesellschaft, deine Schule auch, ebenso die vielfältigen kulturellen und sozialen Initiativen, die zum Teil jetzt gefährdet sind.
Ich lebe in einer widersprüchlichen, in Bewegung befindlichen Gesellschaft, die vielen Menschen auch die Chance für ein Leben bot, in dem es nicht ausschließlich ums Geld geht. Ich werde dieses Bild der Gesellschaft nicht ersetzen durch ein Zerrbild. Eine Karikatur, in der der „kleine Mann“, „die Massen“ unversöhnlich den Mächtigen gegenüberstehen, mit denen „die Politik“ paktiert. Die Lage, in der wir leben, ist nicht ansatzweise den letzten Tagen der DDR vergleichbar. In unserem Land würde ein radikaler Bruch derzeit rechtsradikale Kräfte nach oben spülen, was eine weitaus größere Gefahr einer autoritären Wende in sich bergen würde, als ich sie in der derzeitigen Entwicklung erkenne.
Ja, es herrscht das Profitprinzip, aber das ist nicht alles. Ja, es gibt Mächtige, die unermessliche Reichtümer anhäufen, und es gibt viele Menschen, deren Existenz bedroht ist. Sie verdienen Unterstützung. Unser Anliegen, die Nöte allen Lebens zu wenden, findet nicht umfassend Unterstützung, sondern stößt auch in den Massen auf Widerspruch, Hemmnisse, Anhänglichkeit an gewohnte Lebensweise. Andererseits gibt es auch in etablierten Parteien Menschen, die redlich an der Verbesserung der Bedingungen für alles Leben arbeiten.
Nicht einmal die Reaktion des Staates auf die Herausforderung durch den Virus ist in dieser Karikatur erkennbar beschrieben. Hier wurde dem Lebensschutz von Schwachen der Vorrang eingeräumt auch gegenüber mächtigen Profitinteressen. Um das nicht wahrzunehmen, wird diese Herausforderung klein geredet mit dem Verweis auf die bisher im Vergleich zur Grippe geringen Anzahl der Toten.
Dabei befinden wir uns wohlmöglich, wer weiß es schon genau, nur in einer vorübergehend ruhigen Phase der ganzen Choose, auch wenn wir sie am liebsten möglichst sofort hinter uns ließen. Die im Verhältnis zu Italien, Großbritannien, Frankreich, Schweden und den USA geringe Zahl der Toten hierzulande, ist Folge genau der Maßnahmen, gegen die sich der Protest unerklärtermaßen richtet. Nein, es tut mir leid. Da bin ich nicht dabei.
Anfang des Jahres beim internen Wolfstracking erschrakst du vor dir selbst. Du hattest als Leiter der Wildnisschule eine Grenze überschritten. Du hattest angekündigt, dich stärker politisch zu engagieren, klarer deinem Zorn Ausdruck zu verleihen. Damals ging es um die Klimakatastrophe. Jetzt um die Corona-Krise.
Du hast mit Bedacht nur ein paar Sätze aus den Schreiben deiner Eltern in den Newsletter übernommen. Ich glaube, als Leiter stehst du vor der Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass die Wildnisschule nicht politisch überstrapaziert wird. Ihre Stärke liegt darin, einen Raum für die Erfahrung zu bieten, dass wir Menschen im Einklang mit den anderen Wesen leben können, die diesen Planeten bevölkern, so wie das seit Anbeginn der Zeit Menschen gelungen ist. Diese Erfahrung zu erhalten, die Liebe zu allem Leben immer wieder neu zu entfachen, ist zu wichtig, als das alles vor einen klapprigen politischen Karren zu spannen.
Mein lieber Paul,
manchmal finde ich keine Worte und manchmal so viele. Nimm sie als Zeichen meiner Freundschaft zu dir.
Ich grüße dich
Michael