Beim Weben des Netzes

Wildnispädagogik und unser Wirken in die Gesellschaft

Seit meiner frühen Jugend spielt Politik, meist hätte ich es nicht so genannt, eine große Rolle in meinem Leben. Das, zeigte sich vor allem im direkten sichtbaren Tun, egal ob Spendenaktionen, Projekte, Aktionen, Organisation von Veranstaltungen, Demos, Blockaden und die Organisation von freien Jugendzentren. Politik war ein Akt der Auflehnung gegen eine ungerecht empfundene Welt. Ein paar Jahre später studierte ich Naturschutz und Umweltbildung, kam in Berührung mit umweltpolitischen Themen und mit Wildnispädagogik, und „Das da draußen“ wurde immer mehr auch zu einem „Das da drinnen“. Politik wurde auch zu einem Thema meiner Verbindung und meiner Trauer um den Verlust von Verbindung mit der mehr-als-menschlichen-Welt. Neben der Begeisterung für alles, was mit der Wildnis-Szene zu tun hatte, flochten sich auch kritische Fragen ein: „Können wir es uns leisten unpolitisch zu sein, in einer Zeit des Wandels? Wo sind unsere Berührungspunkte als Wildnispädagog*innen, um Gesellschaft ganz direkt mit zu gestalten?“

Auch die Landschaft, in der wir unterwegs sind, ist immer eine politische. Unsichtbare Eigentumsverhältnisse sind in sie eingeschrieben, in ihr materialisieren sich gesellschaftliche Machtverhältnisse. Wer bestimmt welcher Umgang mit der Landschaft im Rahmen des Gesetztes ist, wer darf wieviel nehmen, wer bekommt davon welchen Teil, welche Menge an Giften dürfen über der Landschaft ausgebracht werden, welche Wege nehmen unser Landschaftsgüter, wer bekommt das große Geld? All das sind andauernd verhandelte Feineinstellungen, die uns als Gesellschaft schlafwandlerisch in tiefe Krisen führen: Hunderte Arten verschwinden unwiederbringlich und lassen nur kleine Stillen zurück, die Vielfalt der Landschaft wird zu grünen Einöden, das Wetter wird extremer, Böden verarmen und erodieren, Seen und Moore verdursten. Dieser äußere Lebensweltverlust betäubt unsere Lebendigkeit und unsere Freude. Die politische Sphäre und unser Draußen sein berühren sich unablässig.

Das Feuer knistert und knackt, die Wärme der Flammen legt sich auf mein Gesicht und meine Arme. Ich merke die müde Entspannung nach einem langen erlebnisreichen Tag, es ist der letzte des Camps. wohlige Zufriedenheit, wie nach einem glücklichen Abenteuer breitet sich in mir aus. Doch irgendwie graut mir davor, morgen wieder in das Alltagsleben zurückzugehen, zu viel Geschwindigkeit, zu viel Stress um mich herum, Unachtsamkeit, Lärm. Aber ist das alles, was mich und die anderen Teilnehmenden im Alltag erwartet?

Schauen wir noch einmal genauer hin, bei diesem Feuer am letzten Abend des Camps. Wir sitzen zusammen am Feuer, sprechen, lachen, singen, essen. Hinter unserem Kreis, im Widerschein des Feuers flackert unbemerkt und schemenhaft ein weit größerer Kreis auf. Ich fühle das Wohlwollen von Freunden und Bekannten, das von diesem Kreis ausgeht. Dort sind die Menschen, die es uns ermöglicht haben, hier in diesem Camp zu sein. Menschen, die uns inspiriert haben, mit denen wir eine Strecke des Lebensweges gegangen sind, die vielleicht jetzt gerade auf unsere Kinder, oder die Katze zu Hause aufpassen. Hinter diesem Kreis, fast völlig im Schattenmeer der Nacht versunken, erstreckt sich ein noch viel größerer Kreis. So groß, dass er über den Platz hinausreicht, fast als könnte er den Horizont füllen. Der große Rahmen um unsere Lebensgeschichten. Da sind die Mechaniker, die den Zug gebaut haben, der mich herbrachte; die Ärztin die gerade meine Mutter behandelt und ihr Linderung in ihrer Krankheit verschafft; die Lehrer und Lehrerinnen, die mir die elementarsten Dinge beibrachten, wie zu schreiben und zu rechnen. Die Försterin, die den Wald deiner Kindheit bewirtschaftete, wo du Bäume lieben lerntest. Kommunalpolitiker, die sich für niedrigere Kitagebühren einsetzen. Mehr ein Netz als ein Kreis ist es, aus unzähligen Personen, Gedanken und Tun. Sie bildet den Rahmen, den Grund und Boden, auf dem wir im übertragenen Sinne jeden Tag stehen.

Hörst du das Surren der Webspulen? Zwischen den drei Kreisen spinnen sich Verbindungen. Weben sich Fäden, unsichtbar-silbrig und halten die Kreise zusammen, wie bei einem Mobile. Hier laufen Fäden und Beziehungen von gegenseitiger Unterstützung, je mehr desto widerstandsfähiger, je diverser desto schillernder ist das ganze Gebilde. Hier in der Natur sind wir „draußen“, wie wir sagen, aber auch „Draußen“ sind wir immer „Drinnen“, „drinnen“ in unserer Gesellschaft. Wir ruhen uns auf ihrem Boden aus, und starten von hier zu neuen Entdeckungen und Aufgaben. Gehalten von einem Netz dass wir alle, in unseren Unterschiedlichkeiten, zusammen tragen. Dessen technische Möglichkeiten der Kommunikation uns mit lieben Menschen in der Ferne verbinden, dass uns die Sicherheit gibt „auch morgen wirst du etwas zu Essen haben“, die uns zu entfernten Orten aufbrechen lassen. Eine Kultur, in der uns unendliche Erfahrungswelten offen stehen. In der wir in einem hohen Maß an Frieden leben können und von einem historisch nie dagewesenen Wissen der Medizin profitieren können.

Aber es weben sich nicht nur Fäden, sondern sie werden auch zerrissen, und es treten Menschen zurück, die dieses Netz nicht mehr halten wollen. Ereignisse und Krisen reißen Löcher in das Gewebe, Hass zerreißt Fäden wie ein Stein, der durch ein Spinnnetz fliegt. „Unpolitisch gibt es nicht“, Auch Schweigen und Gleichgültigkeit haben Auswirkungen und beeinflussen die Balance der unterschiedlichen Kräfte und Verbindungen im gesellschaftlichen Raum. Wagen wir uns hinein in die Verstrickungen, Zumutungen und Polaritäten, in die lauten und leisen Tönen, dorthin wo der starke Wind weht. Dieses Netz ist lebendig, seine Fäden tasten nach Anschlusspunkten, ziehen sich zurück, bilden Knoten, fallen ins Nichts. Wir weben dieses Netz, dass tief hinein reicht in unseren Innenraum.

Verstricken wir uns in dieses lebendige Netz: An den Orten an denen wir Arbeiten, in kommunalen politischen Gremien, in Ausschüssen, Bürgerfragestunden, in Essens-AGs in unserem Unternehmen, bei Demonstrationen für eine lebendigere Stadt, in Petitionen gegen Ungerechtigkeiten. Verstricken wir uns indem wir Fertigkeiten teilen, uns engagieren in betrieblicher Selbstverwaltung, bei der Organisation von Naturschutzaktionen und Wandelzeiten, im Stellungnehmen gegen menschenverachtende Gedanken, oder einfach indem wir weitergeben, was uns draußen berührt hat. Indem wir interkulturellen Gärten unsere Zeit schenken, ein offenes Gespräch mit einem Menschen führen, dem wir Vorbehalte entgegen bringen. Indem wir indigene Gemeinschaften unterstützen in ihrer Selbstbestimmung und in ihren Lebensverhältnissen vor Ort.

„Die Welt ruft jeden und jede in einer anderen Art und Weise“. Durch unsere Zeit in der Natur bringen wir Fähigkeiten mit, die uns helfen diesem Ruf zum großen Kreis, der Gesellschaft, etwas ganz Eigenes hinzu zugeben. Was das für mich bedeutet, möchte ich anhand dreier für mich tiefgreifender Lernerfahrungen erzählen.

Zuvorderst steht da bei mir die Dankbarkeit. Unzählige Kreisrunden, Gebete, Dankes-Teller, stille Erinnerungen, etwa an glitzernden Morgentau im Gras, haben dieses Gefühl in mir groß werden lassen. Dankbarkeit zu mehren und in jedmögliche Perspektive meines Seins einzuladen, hat mein Blick auf die Welt und damit mein Handeln in ihr verändert. Es ist für mich die Fähigkeit, das Gute und Stärkende auch in verzwickten, ausweglos erscheinenden Situationen zu sehen und zu würdigen. Es heißt aber nicht, Dankbarkeit über negative Gefühle zu pinseln, sondern sie ihnen an die Seite zu stellen. So fällt es mir leichter in Diskussionen das Gemeinsame und Verbindende zu sehen. Wenn wir, trotz Streit, die Schönheit und Eigenart des Anderen im Blick behalten können, fällt es uns leichter, nicht in emotionale Trennung zu gehen. Das ist das Fundament für Lösungen, die alle möglichst zufrieden machen, weil wir für ein gemeinsames Ziel streiten, auch im politischen Raum. Ein Antidot gegen misslungene Kommunikation, Grabenkämpfe und Polarisierungen unserer Zeit. Dankbarkeit geht meinem politischen Handeln voraus und schließt es ab.

Das Gefühl von der Verwandtschaft mit allem Lebendigen hat sich tief in mich eingewoben. Dieses Gefühl wurde von Tierbegegnungen, Sammlungen für Wildkräutersalate, bei Sitzplätzen und wilden Spielen im Gelände genährt. Diese Verwandtschaft kommt zutage bei Alltagsentscheidungen, wie eine totgefahrene Erdkröte von der Straße in das Begleitgrün umzubetten, um ihr meinen letzten Respekt auszudrücken. Sie kommt zutage, wenn ich entscheide, ob wir für den Vereinsausflug teureres regionales Gemüse einkaufen, und kommt in der Positionierung gegen eine geplante Umgehungsstraße ans Licht, die ein idyllisches Fluss-Tal zerschneiden soll. „Unterstützt mein Tun die Vielfalt und Lebendigkeit der Wesen um mich herum?“ – Diese Frage ist für mich eine Leitschnur des Handelns und gleichzeitig eine stetige Kraftquelle geworden, aus der ich für bürokratische Durststrecken schöpfe.

Voraussetzungslos zu beobachten bedeutet tiefes und versunkenes Zuhören – Ein offenes Lauschen auf unsere Umgebung. Es ist eine Grundfertigkeit der Sitzplatzarbeit, alles, was da ist erst einmal anzunehmen und wertfrei zu beobachten. Wie wichtig das auch für unsere Gesellschaft ist, erschließt sich angewandt auf Meinungsbildung oder eine politischen Kontroverse, wo eine Positionierung von mir verlangt wird. Verschiedene Perspektiven auf ein Thema nebeneinander stehen zulassen, zu sammeln, zu betrachten und den Mut aufzubringen, das anzusprechen, was jetzt im Moment in mir dazu präsent ist. Die Geduld zu haben, die vielen Perspektiven nebeneinander zu legen und erst eine Abwägung zu treffen, wenn langsam ein Bild durchschimmert. Das braucht Mut und Demut, weil wir nicht genau wissen, wohin der Weg geht. Das ist für mich erlebbare Transformation, die immer ein Weg ins Ungewisse ist.

Jeder dieser drei Punkte steht für eine Webart im Netz, in dem ich mein Tun verweben kann mit anderen Netzen, schließlich auch mit dem großen gesellschaftlichen Netz, in das wir eingebettet sind. Diese Webarten sind keine explizit politischen Werkzeuge, sondern geknüpfte Verbindungen, die das Netz spannen, dass uns trägt wenn wir unser „Ja zum Lebendigen“ in das wuselnde Durcheinander unserer modernen Welt tragen.

Der Alltag – Ist das also alles, was uns dort „Draußen“, nach einem Workshopwochenende erwartet? Ja, das ist es, und so vieles mehr. Das ist der Ort, wo wir gebraucht werden, und wo es möglich ist, alles, was wir gelernt haben in neue Formen zu gießen. Drehe die scheinbare Zumutung auf den Rücken – und die Aufforderung wird sichtbar; die Aufforderung mit am Netz zu weben. An dem Netz, dass unser soziales Ökosystem, unser gesellschaftliches Feuer darstellt, an dem wir allesamt sitzen und uns wärmen.

Auf all die Feuerhüter unseres gesellschaftlichen Feuers!