Eindrücke und Gedanken in Worte gefasst von Thomas Wernicke 

Kein Laut. Stille, fast… Das Geräusch der ganz
leise quietschenden Gummisohlen, des seit zwei
Stunden vor mir laufenden 14 jährigen Miran, kann
meine Begeisterung über die Ruhe um mich herum aber
nicht trüben. Ich bin Mitglied einer aus 12 Menschen
bestehenden Scoutline. Jugendliche im Alter von 14
bis 18. Momentan laufen Paul, 42, als Pointer vorweg
und Lucas, 25, als Rear hinterher. Ich fühle mich
wohl in der Gemeinschaft des Bodys. Scoutbegriffe
an die ich mich gewöhnt habe.

Vierzig Jahre Lehrer-und drei Jahren Pensionärsdasein und nun laufe ich seit fünf Tagen mit neun Jugendlichen, im Alter von 14 bis 18 Jahren, durch die brandenburgische Landschaft nordwestlich von Berlin. Wie schaffen es neun Pubertierende sich konzentriert, die Sinne wach, ohne albernes Gekicher oder Geschwätz in Stille, mit reichlich Gepäck auf den Schultern durch das Unterholz eines an dieser Stelle lebendigen Waldes Brandenburgs zu bewegen?

Seit vier Jahren unterstütze ich meinen Sohn Paul bei seinem Projekt „Scouts on Tour“ mit Fahrdiensten. Abholung nach einer Woche Scouttour, im Jahr darauf die nächste Gruppe exakt an dieser Stelle absetzen… Jedes Mal kamen mir die jungen Menschen nach einer Woche auf Tour verändert vor, leuchtende Augen, angenehme Gelassenheit… Ich frage meinen Sohn, was den so Besonderes passieren würde in der Woche? „Komm doch einfach mal mit…“, seine lapidare Antwort.

Seit zwei Stunde bewegen wir uns durch den „Dammhirsch –Wald“ nach Osten. Im fünften Jahr von Scouts on Tour der erste Richtungswechsel. In den ersten Jahren ging es nach dem Start vom Platz der Wildnisschule Hoher Fläming in Grützdorf vornehmlich nach Norden… Ein ehrgeiziges Projekt- einmal um Berlin zu laufen  (mit der speziellen Herausforderung, dabei nicht gesehen zu werden) – das von Paul, dem Leiter der Wildnisschule Hoher Fläming, damals entwickelt wurde. Autobahnen, Bundesstrassen und ausgedehnte waldfreien Flächen sind zu überqueren, die Havel wurde bereits vor zwei Jahren in einer Nachtaktion durchschwommen.  Das Essen für eine Woche muss genau kalkuliert werden, da es zu tragen ist und immer ist Wasser zu besorgen…

Ich spüre den Rucksack, der mit seinen zusätzlichen fünf Kilo Spaghetti, Reis und drei Wasserflaschen an meinen Schultern zerrt. Die schwüle Hitze ist unangenehm, kein Lufthauch zu spüren. Ein Gewitter liegt in der Luft. Nach den anstrengenden Überquerungen der vor Hitze flirrenden abgemähten Felder des Linumer Bruchs, immer auf der Hut vor vorbeifahrenden Traktoren, sportbegeisterten Radfahrern, emsigen Bauern, die plötzlich auftauchen um auf ihren Feldern nach dem Rechten zu schauen, macht sich bei mir Erschöpfung breit. Ob es den anderen 11 ähnlich geht?
Wie mag sich Sophia fühlen? Seit gestern klagt sie über
Magenschmerzen, vielleicht ist beim Wasserfiltern doch etwas Ungefiltertes aus dem Rhin in eine unserer Flaschen geraten? Der Rhin ist ein trüb dahin fließender Fluss, der das Linumer Bruch östlich von Fehrbellin durchzieht, immerhin der drittgrößte Nebenfluss der Havel. Sophias Rucksack ist wesentlich leichter geworden, nachdem Karl und Bo anstandslos ihre Lebensmittel übernommen hatten.

Ich zähle die Sekunden nach dem letzten grellen Blitz, 24, 25, 26 , dann der Donner. Schon zwei Kilometer entfernt! Trotzdem trommelt der Regen noch unvermittelt heftig auf die eiligst aufgespannten  Planen. Wir haben nach der Querung eines Weizenfeldes in einer mit jungen Eschen und Erlen bestanden Fläche Zuflucht gefunden. Ich habe schlechte Laune, alles ist feucht, mir ist kalt. Ich habe Hunger. Paul ist unterwegs zu unserem letzten Lagerplatz, er hat sein selbstgefertigtes Messer dort irgendwo vergessen. Zehn Kilometer hin und zurück, bei diesem Wetter. Unter den jungen Menschen herrscht eine gespannte Gelassenheit. Irgendwie haben sie den Hobokocher in Gang gesetzt und der Kessel mit dem Nudelwasser hängt bereits an dem aus drei Wanderstöcken improvisierten Dreifuss. Der Kocher ist benannt nach den Hobos, nordamerikanischen Wanderarbeitern, ihnen diente er als Herd und Heizung. Ein Geschenk amerikanischer Freunde meines Sohnes. Ein andere Gruppe schneidet Zwiebeln, raspelt Käse, bereiten eine Passata aus den Gemüseresten, die nach fast einer Woche übriggeblieben sind. Es ist die letzte Abendmahlzeit unserer Tour. Ich bin beeindruckt von der Selbstverständlichkeit und kollektiven Anteilnahme mit der alle an der Zubereitung des Abendessens beteiligt sind, trotz der widrigen Umstände. Ohne nervige Aufforderungen und lamentieren, findet jeder seinen Platz, seine Aufgabe. Paul ist zurück als die ersten Schüsseln mit dem leckeren Essen gefüllt werden. Es ist schon Nacht als die Entscheidung getroffen wird, die einen Kilometer entfernte B 96 zu überqueren. Einzig Alexander ist zögerlich, er würde diese Aktion lieber auf den nächsten Tag verschieben und am Platz des Abendmahles schlafen.
Nach kurzer Diskussion kann Alex von der Sinnhaftigkeit einer Nachtaktion überzeugt werden.
Die nasse und schwere Plane wandert aus seinem Rucksack zu Lucas, dem so unglaublich wachen und begeisterungsfähigem Praktikanten der Wildnisschule. Diese Nachtaktion ist ein eigenes ganz besonderes Kapitel von Scouts on Tour 2019.

Inzwischen ist es Herbst. Ich bin längst wieder eingetaucht in meiner Komfortzone. War in der Schweiz und in Griechenland unterwegs, aber das Natur- und Sozialerlebnis der Woche im August ist noch sehr präsent. Immer wieder stellt sich mir die Frage, warum zieht es uns in die Ferne, wenn so viel Unbekanntes und Lebendigkeit direkt vor unserer Haustür zu finden sind, wenn wir uns die Zeit nehmen zu sehen, zu entschleunigen? Im kommenden Sommer werde ich noch einmal das Linumer Bruch besuchen, diesesmal mit dem Rad und in kleinen, bequemen Pensionen schlafend… Vielleicht treffe ich den Bauern wieder, der fünf Meter von mir entfernt einen Drahtzaun reparierte, ohne mich in dem stachligen Unterholz zu entdecken, in das ich mit fast perfekter Scoutrolle gehechtet war. Sicher werde ich mich mit ihm freundlich über die Folgen extensiver Landwirtschaft in Brandenburg unterhalten und dabei schmunzelnd an meine Scoutmission denken…