Sommer 2023, endlich war es so weit die Reise zu den Haudenosaunee, besser bekannt als Irokesen. Eine Konföderation von sechs Stämmen entlang der fünf großen Seen, im heutigen Bundesstaat New York und Ontario und Quebec auf kanadischer Seite.

 Vor fünf Jahren hatten wir auf dem Zinken Besuch von einem Ältesten der Mohawks, deröstlichsten Nation der Konföderation. Sein Name ist Tom Porter oder He who wins, was sinngemäß bedeutet: Der, der gewinnt. Wir sind über die Jahre in Kontakt geblieben. Im Sommer war der Zeitpunkt gekommen, endlich der Einladung in seine Reservation zu folgen.

Gemeinsam mit Susanne Fischer-Rizzi machte ich mich auf eine abenteuerliche Reise zu den Menschen, von denen die Geschichte des „Friedensstifters“ stammt. Diese hat die Unabhängigkeitserklärung der USA maßgeblich beeinflusst und bei Susanne und mir fließt sie in den unterschiedlichsten Seminaren immer wieder mit ein.

Die Erlebnisse dieser Reise wirken bis heute nach und ich bin unglaublich dankbar für die Möglichkeit, diese über mehrere Tausend Jahre gewachsene Kultur intensiver kennengelernt zu haben. Das Erlebte mit Susanne teilen und reflektieren zu können, war ein Geschenk.

Unsere Tage waren geprägt von emotionalen Begegnungen, Einblicken in Gegenwart und Geschichte der Haudenosaunee.

Am eindrücklichsten waren die vielen Gespräche, Roadtrips, Museumsbesuche mit Tom Porter kreuz und quer durch den Bundestaat und darüber hinaus. Ich glaube wir haben jedes Museum besucht, das sich mit der Geschichte der großen Konföderation der Irokesen beschäftigt.

Tom war ein beeindruckender Reiseführer, der zu jedem Ausstellungsstück etwas zu ergänzen hatte. Es war deutlich zu merken, wie wichtig es ihm war, uns ein möglichst vollständiges Bild seiner Leute und deren Lebensweise zu geben. Bei fast jedem Bild oder Foto, auf dem Mohawks zu sehen waren, hörten wir den Satz: „Das ist mein Urururgroßvater“ oder „Hier seht ihr meinen Onkel dritten Grades“, oder er nannte eine andere Art der Verwandtschaft.

Egal welches Museum wir besuchten, Tom wurde stets persönlich begrüßt und oft gleich in lange Gespräche verwickelt. Jeder schien ihn zu kennen.

Umso mehr Zeit wir mit ihm verbrachten, umso mehr wurde uns klar, wie besonders dieser Mensch ist.

Als Kind verbrachte er die meiste Zeit mit seiner Großmutter, die nur wenig Englisch sprach und ihm die Bräuche und Geschichten seines Volkes in Mohawk lehrte. Die Eigenbezeichnung der Mohawk lautet Kanien’kehá:ka und bedeutet sinngemäß: Leute vom Land des Feuersteins.

Sprache ist entscheidend für das Überleben einer Kultur und die Sicht auf die Welt. In seinen späteren Lebensjahren gründete Tom eine Schule, in der Mohawk für die jüngeren Generationen unterrichtet wurde.

Es gibt 7000 verschiedene Sprachen auf der Welt, hinter jeder steht eine eigene Kultur. Die Mehrheit davon hat sich ohne Schrift entwickelt, bis der von Europa ausgehende, weltweite Kolonialismus alles veränderte. Was nicht bedeutet, dass Kulturen mit mündlicher Überlieferung keine Wege hatten ihre Geschichte, prägende Ereignisse, Vereinbarungen und Gesetze festzuhalten.

Wir alle kennen die alten Höhlenmalereien und Kunstgestände unserer Vorfahren, um ihrer Kultur Ausdruck zu verleihen. Bei den Haudenosaunee sind es die sogenannten Wampum Belts. Das sind kunstvolle und aufwendig hergestellte Gürtel aus farbigen Muscheln (Quahog-Muscheln). Die Muster und Symbole auf den Wampum stehen für Ergebnisse und Entscheidungen die gemeinsam beschlossen wurden. Diese Entscheidungsprozesse beruhten auf vereinbarten Regeln, eine davon war, das Konsens zwischen allen Beteiligten hergestellt werden musste. Das gilt für die gesamte Konföderation der Haudenosaunee, die heute aus über 100.000 Menschen besteht.

Seit der Ankunft der weißen Siedler, wurde jede Vereinbarung über Landrechte und Handelsbeziehungen mit der Konföderation in einem Wampum festgehalten. Keiner dieser Verträge wurde von Seiten der Siedler eingehalten.

Die Unterdrückung und Diskriminierung gehören bis heute zum Alltag der Mohawks und waren auch für uns deutlich spürbar. Als junger Erwachsener war Tom in Nordamerika unterwegs, um für die Souveränität und Rechte seines Volkes zu kämpfen. Als Gründer der „Whites Roots of Peace“, ein Vorläufer des American Indian Movement (AIM), ist er bis heute ein wichtiger Vertreter und Sprecher der Haudenosaunee und gleichzeitig aller weiteren Nationen Amerikas. In den USA sind 573 verschiedene Stämme staatlich anerkannt, viele weitere haben ihre Anerkennung beantragt.

Tom zuzuhören ist fesselnd und berührend. Dabei spielt es keine Rolle, ob er über sein Volk, die aktuelle politische Weltlage, die Zerstörung unseres Planeten oder seine eigene Familie spricht. Nicht selten waren wir beide zu Tränen gerührt.

Vater auf Mohawk heißt „Lakeni“, sinngemäß übersetzt bedeutet das: Der mir das Leben geborgt hat. Neben seiner Rolle als Aktivist ist Tom Porter vor allem liebevoller Vater, Opa und Urgroßvater. So kamen bei einem gemeinsamen Abendessen über 20 Menschen. Bei dieser Gelegenheit spürten wir die Wichtigkeit der Großfamilie. Neben einer festlichen Tafel mit leckerem Essen, spielten die zahlreichen Kinder der Familie. Es wurde gelacht, erzählt und gesungen, Susanne und ich fühlten uns warmherzig aufgenommen.

Die Gespräche mit seinem Sohn und einigen seiner Enkel haben uns die schwierigen und komplexen Probleme im Reservat besser verstehen lassen. Toms Sohn arbeitet bei der Reservatspolizei in Akwesasne, dem größten Reservat der Mohawks. Dort leben um die 14.000 Mohawks, auf einem Bruchteil ihres ursprünglichen Stammesgebiets.

Akwesasne ist einzigartig. Kein anderes Reservat in Nordamerika ist durch eine Staatsgrenze geteilt, auf kanadischer Seite zusätzlich noch durch die Grenze der zwei Provinzen Quebec und Ontario. Auf jedem Gebiet bestehen unterschiedliche Gesetze.

Glücksspiele in riesigen Casinos, Drogenhandel und Bandenkriminalität, Umweltverschmutzung durch Fabriken entlang des Sankt-Lorenz-Stroms und die andauernde Missionsarbeit verschiedenster christlicher Gemeinden beeinflussen die Politik im Reservat und liefern ausreichend Zündstoff für stammesinterne Meinungsverschiedenheiten.

Es gibt zwei Lager im Reservat. Einmal das der Traditionellen, die die alten Überlieferungen lebendig halten und nach dem Vorbild ihrer Vorfahren leben und lehren. Und dann das der modernen Mohawks. Ihre Anpassung an die Werte der amerikanischen Gesellschaft geht oft einher mit dem Negieren der eigenen Kultur.

Die Entscheidung, ob eine Casinoanlage auf dem Native Land gebaut werden soll, ist in vielen Reservaten Nordamerikas ein häufiger Grund für Meinungsverschiedenheiten.

Casinos sind einerseits eine gute Einnahmequelle für den ganzen Stamm, anderseits Potenzial für Kriminalität, Spielsucht und Alkohol.

Bevor in Akwesasne ein großer Komplex mit Hotels und Casino gebaut wurde, gab es verschiedene illegale Glückspielorte. Die daraus entstandenen Konflikte führten 1990 zu einem von zwei bewaffneten Auseinandersetzungen. Tom nannte sie Bürgerkriege. Während der gewalttätigen Stammesauseinandersetzung wurde sein selbstgebautes Haus zweimal niedergebrannt und er überlebte zwei Attentate.

Eines von vielen Beispielen, in denen indigene Weltsicht mit der westlich-kapitalistischen Weltsicht kollidiert.

Diesen Konflikt hat Tom zu spüren bekommen. Er überlebte mehrere Mordanschläge, einmal waren es Mitglieder des Ku-Klux-Klans, ein anderes Mal bezahlte Killer von Industriekonzernen.

Ein weiterer offensichtlicher Grund der Spaltung ist der Einfluss der Kirche. In den Städten standen gefühlt an jeder zweiten Straßenecke eine Kirche von Baptisten, Calvinisten, Quäkern, Lutheranern oder von den überraschend vielen Amish. Es gab Straßenschilder, mit einem Symbol für: Achtung Kutsche!

Sogar auf dem kleinen Gebiet von Akwesasne standen Kirchen. Vor 40 Jahren, so Tom, waren im Reservat 80 Prozent der Mohawk christianisiert und nur 20 Prozent folgten den alten Wegen. Heute hat sich das Verhältnis umgedreht.

Nicht zu vergessen die Verbrechen, die durch die „Residential Schools“ in fast jeder Geschichte auftauchen, wenn es um die letzten zwei Generationen geht. Toms Großvater wurde mit vier Jahren von den Behörden der US-Regierung aus dem Elternhaus gerissen, um fast 20 Jahre später wieder heimzukehren.

Viele Dramen dieser Schulen werden erst heute aufgedeckt, die harte Bestrafung bei Regelverstößen, der Missbrauch und sogar Kindermassengräber.

Das Erstaunlichste für mich ist, dass er trotz des Leids und Unrechts, das ihm persönlich, seiner Familie, seinen Freunden und seiner Nation angetan wurde, einer der herzlichsten, freundlichsten Menschen ist, die ich je getroffen habe. Ich habe ihn nie schlecht über andere sprechen hören. Jede seiner Überlegungen und Aussagen führte immer wieder zurück zu der Frage: „Was dient am meisten dem Frieden?“

Seine Lebensaufgabe ist, Frieden in der Welt zu verbreiten. Frieden zwischen den Menschen untereinander und Frieden mit allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Das lebt und lehrt Tom, es ist spürbar und ansteckend.

Wahrscheinlich ist Humor eine Art, mit den Wunden, die seinem Volk und seinem Land angetan werden und wurden, umzugehen. Wir haben täglich Witze ausgetauscht und keine Gelegenheit ausgelassen, uns mit Späßen gegenseitig zum Lachen zu bringen.

Wenn Tom über den Frieden sprach, erzählte er oft vom Friedensstifter.

Eine Figur aus einer Geschichte, welche die gesamte Kultur der Haudenosaunee seit über tausend Jahren beeinflusst. Viele Wildnisschulen kennen Teile dieser Geschichte. Vor allem durch die Geschichten von Jon Young, einem Mentor von uns aus den USA und Entwickler des Acht-Schilde-Modells. Sie hat die Unabhängigkeitserklärung der USA maßgeblich beeinflusst.

Egal in welcher Himmelsrichtung wir nach stundenlangen Autofahrten ankamen, überall zeigte uns Tom Plätze, an denen sich vor vielen Hundert Jahren der Friedenstifter aufgehalten hatte. Mit jedem Ort waren Teile der Geschichte verbunden. Als der Friedensstifter durch das Land reiste, herrschte bereits über viele Generationen Krieg. Unfassbare Greueltaten, Morde und Verbrechen zwischen den benachbarten Stämmen waren Alltag. Den ersten Stamm, den der Friedensstifter besuchte, waren die Mohawks, die als die gefährlichsten von allen galten. Wenn es ihm bei denen nicht gelingen würde, dann bräuchte er es erst gar nicht bei den anderen versuchen. Bevor die Mohawks ihn anhörten, musste der Friedenstifter verschiedene Prüfungen bestehen, um sie schlussendlich dazu zu bewegen, ihre Waffen niederzulegen. Das Dorf lag an einem reißenden Strom, den heutigen Cohoes Falls am Mohawk River.

Ich kannte diesen Teil der Geschichte bereits seit vielen Jahren. Es war ein besonderes Gefühl, an diesem gigantischen Wasserfall zu stehen, und stellte den Besuch der Niagarafälle um Längen in den Schatten. Die Botschaft des Friedens zieht sich durch die gesamte Geschichte, die einmal im Jahr mit Hunderten von Haudenosaunee über zwölf Tage wiedererzählt wird.

Warum haben wir keine gemeinsame Geschichte mehr, die wir unseren Kindern erzählen könnten, in der es um Frieden, Vergebung und Liebe geht und um die Wichtigkeit, die Auswirkungen von Krieg und Zerstörung nie zu vergessen?

Jeder Indigene schien die Geschichte des Friedenstifters zu kennen oder zumindest die Essenz und wesentlichen Elemente, egal ob Haudenosaunee oder vom angrenzenden Sprachraum der Algonkins, zu dem wiederum viele verschiedene Stämme gehören. Die meisten weißen US-Bürger, die wir trafen, wussten, wer der „Peacemaker“ war .

Diese tausendjährige Geschichte wirkte mit der Landschaft, den Menschen und der Kultur verwoben, wie eine stetige Verbindung mit der Vergangenheit und der Erinnerung, wie wichtig Frieden ist.

Die Vielschichtigkeit und Menge der vielen Eindrücke waren überwältigend. Neben den Themen der eigentlichen Bewohner dieser Landschaften, war da ständig ein Amerika, mit großen Autos, Fastfoodketten und bunten Reklameschildern, dauerhaft flimmernden Bildschirmen und auffällig vielen übergewichtigen Menschen. Alles in diesem Land wirkt im Vergleich zu Europa XXL.

Das galt auch für die vielen Flüsse, ein unfassbar breiter St. Lorenz Strom, Hudson River, Connecticut River und der Mohawk River, auf dem der Friedensstifter im Kanu das Land durchquert hat. Wir streiften die Ausläufer der Appalachen, einem Gebirge das mehr als 300 Millionen Jahre alt ist.

Den Gefiederten Aufmerksamkeit zu schenken ist für mich immer erholsam, auch wenn ich die meisten Arten anfangs nicht mit Namen benennen konnte. Eine mir irgendwie fremde und doch bekannte Vogelwelt. Zwar ist der Ruf der Black Swift völlig anders als unser europäischer Mauersegler, doch das Flugbild ist fast identisch. Der Zaunkönig ist unserem vom Gesang und Verhalten sehr ähnlich, zumindest die eine Art von insgesamt drei Arten in der Region.

Die Morning Dove ist die Schwester unserer Turteltaube. Es gab auch Mischvögel. Der American Goldfinch war vom Verhalten und Größe wie ein Stieglitz, beide gehören zur gleichen Familie. Sein knalliges Gelb und das scharf abgesetzte Schwarz gab ihm dann den Namen „Minipirol“. Der Blue Jay, eine amerikanische Häherart, hatte den typischen Charakter der Krähenvögel, frech, neugierig und laut. Nur halt leuchtend blau.

Das Taubenschwänzchen ist ein faszinierender Falter aus der Familie der Schwärmer und wird oft mit Kolibris verwechselt. Wer allerdings mal echte Kolibris gesehen hat, erkennt den Unterschied schnell. Die Erscheinung ist feenartig und unglaublich flink, dazu sehr zielorientiert und meist genauso schnell wieder weg, wie er plötzlich erschienen ist und damit meine Welt für einen kurzen Moment angehalten hat.

Spurenlesen ist ein großer Teil meines Lebens geworden. Sobald mein Auge lesbares Substrat entdeckt, will es wissen, welche Geschichten dort geschrieben stehen. Das Betrachten von Tierspuren verbindet mich mit dem Ort und seinen Bewohnern. Meine erste Spur in der Nähe von Toms Platz war der Abdruck von Weißwedelhirschen. Ich war entzückt. Ihre Trittsiegel waren eine Mischung aus Damwild und Reh.

Als ich am nächsten Morgen mit dem ersten Licht meine Runde drehte, stand ich plötzlich vor ihnen, eine Mutter mit Kalb. Ihre Größe und ihr Aussehen  ähnelt dem Damwild, allerdings ohne die weißen Punkte. Der auffälligste Unterschied ist der Schwanz, der zwar auch weiß von unten ist, aber um einiges länger als bei unseren Hirscharten. Auf der Flucht wird er steil nach oben gestellt. An diesen Anblick musste ich mich etwas gewöhnen.

Völlig neu für mich waren die Woodchucks oder Waldmurmeltiere. Wie unsere Alpenmurmeltiere leben sie in Kolonien. Anders als die europäische Verwandtschaft leben sie dort im Flachland und scheinen keine Scheu vor menschlichen Siedlungen zu haben. Ich fand Bauten mitten in urbanen Strukturen und vor allem verging keine Autofahrt ohne Woodchucksichtung, denn die Ränder der Highways waren voll von ihnen.

Es gab weitere Tierbegegnungen mit Elch, Biber, Mink, verschiedenen Hörnchenarten und Kaninchen.

Doch wenn man mit einer Koryphäe wie Susanne Fischer-Rizzi unterwegs ist, dann rückt die Pflanzenwelt in den Mittelpunkt jedes Spazierganges.

Kaum zehn Schritte vergingen ohne ein Staunen, Erklärungen oder Fragenstellen zu den grünen Wegbegleitern. Ich weiß jetzt viel mehr über die Familie der Lippenblütler, deren Vertreter auch zahlreich bei uns vorhanden sind, wir alle kennen Salbei oder Pfefferminze, zwei klassische Arten aus dieser großen Familie.

Doch ihr umfangreiches Wissen über alte Kulturen in Europa, hat mir neue Horizonte eröffnet. Egal ob in der Bronzezeit der Jungsteinzeit oder bis zurück in Zeiten, in denen Homo Sapiens und Neandertaler die gleiche Landschaft geteilt haben. Immer wieder stießen wir auf Parallelen zwischen europäischen Kulturen und den Haudenosaunee.  Vermutlich trifft das auch auf anderen Indigene Völker des amerikanischen Kontinents zu.

Zum Beispiel die Langhäuser. Wortwörtlich übersetzt bedeute Haudenosaunee „Die Leute aus dem Langhaus“. Die Langhäuser sind zentraler Treffpunkt in jedem Reservat, das wir besuchten. Ein Ort, an dem Jahresfeste, Hochzeiten, Geburtsfeste gefeiert werden. Ratsversammlungen werden hier abgehalten und vieles mehr. Natürlich werden heute moderne Baumaterialien verwendet, die Bedeutung und die Abläufe bei Zusammenkünften sind in ihrem Kern allerdings viele hunderte Jahre alt und älter.

Die traditionelle Bauweise, in der laut Tom bis vor 250 Jahren noch gelebt wurde und heute in Museen anhand von originalgetreuen Nachbauten zu bestaunen ist, ähnelt den Langhäusern Europas auf verblüffende Art und Weise. In Europa geht die Tradition dieser Bauweise bis in die Jungsteinzeit vor etwa 7500 Jahren zurück, wo die ersten Bauern in der heutigen Magdeburger Börde ihre Siedlungen bauten.

Langhäuser finden wir in Mitteleuropa als weit verbreitete Bauform bis ins 5. Jahrhundert. Die den traditionellen Langhäusern der Haudenosaunee am ähnlichsten waren nach meiner amateurhaften Einschätzung die der Glockenbecherkultur in der Bronzezeit (vor ca. 3000 Jahren), sie haben die anderen Bauernkulturen verdrängt oder abgelöst und über 800 Jahre in den Gebieten um Halle und Magdeburg herum gelebt.

Das ist die gleiche Kultur, die mitverantwortlich für eins der sieben Weltwunder – Stonehenge   sowie dem wohl bedeutendsten Fund der Bronzezeit: der Himmelsscheibe von Nebra.

Das Langhaus der Mohawk konnten wir in Akwesasne von innen bewundern. Dort hingen an den Wänden die traditionellen Kopfbedeckungen der Haudenosaunee, der sogenannten Gustoweh. Diese waren mit Federn verzieht und einige wenige hatten zusätzlich zwei Geweihteile, die wie Hörner links und rechts befestigt waren. Wir erfuhren von Tom, dass nur die Häuptlinge diesen zusätzlichen Schmuck tragen dürfen. Wenn ein Häuptling seines Amtes enthoben wird, was sehr selten der Fall ist, dann wird er „dehorned“, also entweiht.

Das faszinierende daran ist, dass Archäologen in Europa Geweihmasken ausgegraben haben, deren Alter auf über 10.000 Jahre geschätzt wird, also mitten aus der Steinzeit. Diese Hornmasken finden sich als kulturelles Element auf dem europäischen, asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Kontinent. Der Träger und auch die Trägerinnen (zum Beispiel die 7000 Jahre alte „Schamanin von Dürrenberg“) haben jeweils eine besondere Rolle und Aufgabe in der Gemeinschaft. Bei den Haudenosaunee sind es zum Beispiel die Anführer oder „Faithkeeper“ (Glaubenshüter, Bewahrer der alten Wege), bei verschiedenen sibirischen Völker sind es die Heiler oder Wahrsager, die eine Geweihmaske oder Krone tragen.

Die Gustoweh wird zu besonderen Anlässen getragen. Wie zum Beispiel die vielen über das Jahr verteilten Zeremonien. Jede Kultur pflegt eigene Zeremonien. In unserer sind viele Zeremonien und Bräuche leider zu konsumorientierten Veranstaltungen verkümmert. In Toms Kultur jedoch lebendige Anlässe, die die Gemeinschaft verbindet und immer wieder an die Lehren der Vorfahren erinnert.

Zeremonien dienen verschiedenen Zwecken, bei den Mohawks hauptsächlich, um Dankbarkeit zu zeigen. Dankbarkeit für das, was die Vorfahren erlebt haben, Dankbarkeit für jedes Lebewesen auf diesem Planeten, jedes Element, jeden Stern bis hin zu den zukünftigen Generationen, deren Leben unausweichlich mit unseren alltäglichen Entscheidungen verflochten ist.

Immer wieder wird deutlich gemacht, dass alles zusammenhängt, jedes Teil der gesamten Biosphäre und darüber hinaus. Die Ältesten der Mohawks sehen eine der Aufgaben von uns Menschen auf dieser Erde, genau das zu tun: Danke zu sagen. Eine Fähigkeit, die keine anderes Säugetier beherrscht.

Dadurch manifestiert sich eine Haltung der Wertschätzung, des Respektes und der Demut. Aus dieser Haltung heraus können wir dann die weitere Aufgabe angehen, die laut Toms Aussagen zum Mensch sein gehört. Nämlich dafür zu sorgen, dass die Erde gesund und fruchtbar bleibt, für alle Lebewesen, auch die nicht menschlichen.

Offensichtlich haben wir westlich geprägten Menschen uns meilenweit von dieser Aufgabe entfernt. Vielleicht ist ein weiteres Puzzleteil die bestimmende Herrschaftsform. Dass patriarchale Strukturen sehr zerstörerisch wirken können, erleben wir in unserer Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten hautnah.

Wie fühlt es sich wohl an in einer matrilinearen Gesellschaft aufzuwachsen, wie Tom und seine Familie? Oder vielleicht in egalitären Strukturen zu leben? Anerkannte Anthropologen (wie zum Beispiel Harald Meller, der Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle) gehen davon aus, dass die Mehrzahl der Menschen bis in die frühe Bronzezeit in gleichberechtigten Gruppen organisiert waren.

Besonders spannend ist, welche tiefere Bedeutung hinter den Geweihmasken und Langhäusern in unserer Region lag. Welche Feste wurden wohl dort gefeiert? Hat sich das Leben auf und mit dem Land für die damaligen Gemeinschaften vor 5000 oder 10.000 Jahren ähnlich angefüllt wie das Leben der Vorfahren von Tom zu den Zeiten des Peacemakers? Wir werden es nie wirklich wissen, vieles wird Spekulation bleiben.

Die Frage nach Ähnlichkeiten in den Traditionen der Haudenosaunee oder auch anderer indigener Völker mit unseren europäischen Vorfahren aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit ist vielschichtig und komplex. Ich fühle mich gerade am Anfang, auf der Suche nach Antworten.

Vielleicht ist für uns ein gesellschaftliches Erinnern an bestimmte Praktiken, Einstellungen und Umgangsformen unserer Vorfahren notwendig. Um einerseits besser zu verstehen, wie wir in diese lebensbedrohliche Lage geraten konnten und andererseits Auswege aus der Situation zu entwickeln. Als vielfacher Vater, denke ich tatsächlich oft an meine Urenkel. Wie wird die Welt für sie sein? Klar ist, dass jeder Einzelne von uns die Zukunft beeinflusst.

Durch meine Arbeit in der Wildnisschule habe ich einen Weg gefunden, der sich wertvoll anfühlt. Jede weitere Stunde gemeinsam mit Tom hat uns seine Sicht auf die Welt verstehen lassen. Es gab immer wieder diese leise Ahnung in mir, wie es sich anfühlt, in Frieden mit der Schöpfung zu leben.

Eines ist gewiss, diese Reise hat Spuren in mir hinterlassen, Hoffnung geschenkt und inspiriert an die friedliche, emphatische Seite der Spezies Mensch zu glauben. Die gesamte Erdgeschichte zeigt, dass das einzig stetige die Veränderung ist, alles ist mit allem in Verbindung und unaufhörlich im Wandel. Wir sind ein Teil dieses Prozesses und in diesem Moment fühlt es richtig gut an. Während ich diese letzten Zeilen schreibe und voll von Erinnerung bin, fühlt es sich wertvoll an Mensch zu sein und ich habe Lust, wie Tom es uns in jeder Sekunde vorgelebt hat, meinen Teil beizutragen zum großen Erinnern.