Sollte ich mich nicht lieber an Sonnenschein und Vogelsang erfreuen, als an Extremtemperaturen und Vogelsterben zu verzweifeln?

Während ich mich für die Jahresendabrechnung noch mit Corona-Sonderregelungen abmühe, denke ich gleichzeitig an Klima, Krieg und Krise.

Wie gern würde ich mich rückblickend nur mit den aufbauenden Erinnerungen meiner Naturbeobachtungen oder den erfreulichen Herausforderungen der Wildnisschulenarbeit beschäftigen.

Das Artensterben erscheint mir bedrohlicher als Klimawandel und taucht aber viel seltener in den Nachrichten auf.  Es scheint gerade für Stadtbewohner viel weniger spürbar und darüber hinaus lässt sich mit der Rettung bedrohter Pflanzen und Tiere im Gegensatz zur viel beschworenen „Energiewende“ kein Geld verdienen.

Dazu passte die Nachricht, dass der geplante Glyphosatausstieg im Europaparlament um zehn Jahre verlängert wurde. Keine Proteste, keine Demonstrationen! Ausdruck wachsender Naturentfremdung in unserer Gesellschaft?
Befremdlich, wie das Thema Wolf immer mehr polarisiert, sich Positionen verhärten und Gesetzesentwürfe beim EU-Parlament eingereicht worden sind, um den Schutzstatus des Wolfs herabzusetzen, um Abschusspläne für die Bestandsregulierung durchzusetzen.

Um sich über Fakten, Hintergründe oder Lösungsansätze zu informieren, pickt sich jede und jeder die argumentativ und gesinnungstechnisch passenden Informationsquellen aus dem unübersichtlichen Meer an Podcasts, Aufsätzen, Vorträgen oder Nachrichten heraus – und zwar genau die, die ins eigene politische Süppchen passen.

Ich suche weiter nach dem für mich passenden Seitenweg auf dem allgemeinen Irrweg, um doch noch meine Lichtung zu entdecken.

Gleichzeitig war das Jahr 2023 durch die Arbeit in der Wildnisschule von sinnstiftenden, Hoffnung schaffenden Erlebnissen gefüllt.

Im August erschien mein erstes Buch: „Vögel verstehen“.  Im November hatte ich meine erste Buchlesung im Naturpark Köselitz – das war gleichzeitig aufregend und Mut machend.
„Phantastische Tierwelten“ bei RadioEins ist inzwischen in meinem Wochenplan fest verankert. Seit Anfang 2022 habe ich jeden Mittwoch die Möglichkeit, meine Naturhighlights mit vielen Menschen zu teilen.

Die Interviews bei Deutschlandfunk Nova oder Auftritte im Frühstücksfernsehen von SAT1 sind für mich Anzeichen vom wachsenden Interesse der Menschen an Fauna und Flora vor unserer Haustür.

Im vergangenen Jahr hat die „Wilde Weise“ zum zweiten Mal stattgefunden. Das besondere dieser Woche war für mich, dass wir uns neben wildnispädagogischen Themen den Krisen des aktuellen Weltgeschehens widmeten. Der Fokus lag auf der Frage: Was können wir als einzelne Menschen beitragen zu einer friedlichen, hoffnungsvollen Zukunft und was brauchen wir dafür?

Judith und Myriam von der Wildnisschule Wildeshausen haben ihre Erfahrungen aus der Tiefenökologie und Ritualarbeit einfließen lassen und boten dadurch neue Perspektiven und Methoden. Es war eine wunderbare Erfahrung, mit diesen beiden strahlenden Frauen zusammenzuarbeiten.

Am Ende der Woche war ein neues Lied entstanden, mit einfachen Worten und leicht mitsingbar, und doch drückt es genau unsere Herzensmotivation aus. Wir sangen es während des Abschlussrituals über Stunden mit Leidenschaft. Nur wenige Wochen später, während der Erntedankzeremonie auf dem Herbstfest, wurde es von über 150 Stimmen gesungen und erfüllte unseren Platz mit seinem Klang.
Seit vier Jahren sind wir dabei, ein Dank-Fest zu entwickeln, das zu uns passt. Mit jedem Jahr fühlt es sich in jeder Beziehung stimmiger an.

Eine große Kraftquelle waren die Seminare. Egal ob Weiterbildungen, Sommercamp, Jugendscout oder die Wochenendseminare. Ich liebe es, auf dem Zinken zu sein und unterschiedlichsten Menschen unsere Landschaft und ihre Bewohner näherzubringen.

Die vielen berührenden Momente am Feuer, wo das Erfahrene und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle geteilt werden, lassen die großen Probleme der Welt oder die für mich oft kräftezehrenden Stunden im Büro in den Hintergrund treten.

Diese Glücksmomente werden noch intensiver, weil ich sie mit Gleichgesinnten teilen kann. Ein planetengroßes Dankeschön an alle Menschen, die unsere Seminare begleitet und unterstützt haben, unabhängig, ob als Leitung, Team, in der Küche oder als Praktikant*in. Die wohlwollende Kritik, der Austausch und vor allem die Freundschaften, die dabei entstehen, sind Balsam für meine Seele.

Wenn dann noch im dämmrigen, nebelverhangenen Wald plötzlich und völlig unerwartet der seltene Grauspecht ruft, werden diese Momente unvergesslich. Es war erst meine dritte Begegnung in meinen zwanzig Flämingjahren.

Auch 2023 beschäftigte uns die Frage „Wie können wir dem Ort etwas zurückgeben?“. Eine Antwort darauf ist Landschaftspflege und Umgestaltung, um die Vielfalt zu erhalten und neuen Arten Lebensraum zu bieten. Dank einer Spende an unseren gemeinnützigen Verein LINDE e.V. und vielen helfenden Händen konnten wir über 400 Bäume und Sträucher kaufen, einpflanzen und pflegen. Ein weiterer Schritt in dem, was uns neben der alltäglichen Dankbarkeit seit Jahren beschäftigt, dem achtsamen Umgang mit Pflanzen und Tieren und dem Schaffen von unberührten Flächen.

Es vereinen sich die Ansätze von Permakultur und Wildnispädagogik. Unser Verein LINDE e.V. soll als verbindendes Element dienen und gleichzeitig Menschen eine Plattform bieten, uns zu unterstützen, den Platz aktiv mitzugestalten oder Kooperationen einzugehen. Ich freue mich dabei besonders, dass der Bäumepflanzer, Netzwerker und Umweltaktivist Robert Strauch vom Verein zukunftsFähig e.V. eine Aktion auf unserem Platz initiiert hat. Sein Wissen über Permakultur und Pflanzaktionen waren eine große Bereicherung und der fruchtbare Austausch wird uns auch weiterhin begleiten.

Absolutes Highlight war meine Reise zu den Haudenosaunee, besser bekannt als Irokesen. Eine Konföderation von sechs Stämmen entlang der fünf großen Seen, im heutigen Bundesstaat New York und Ontario und Quebec auf kanadischer Seite.

Vor fünf Jahren hatten wir auf dem Zinken Besuch von einem Ältesten der Mohawks, die östlichste Nation der Konföderation. Sein Name ist Tom Porter oder „He who wins“, was sinngemäß „Der, der gewinnt“ bedeutet. Wir sind über die Jahre in Kontakt geblieben. Im Sommer war der Zeitpunkt gekommen, endlich der Einladung in seine Reservation zu folgen.

Gemeinsam mit Susanne Fischer-Rizzi machte ich mich auf eine abenteuerliche Reise zu den Menschen, von denen die Geschichte des „Friedensstifters“ stammt, die die Unabhängigkeitserklärung der USA maßgeblich beeinflusst hat. Eine Geschichte, die bei Susanne und mir in unterschiedlichsten Seminaren immer wieder einfließt.

Die Erlebnisse dieser Reise wirken bis heute nach und ich bin unglaublich dankbar für die Möglichkeit, diese über mehrere Tausend Jahre gewachsene Kultur intensiver kennengelernt zu haben. Das Erlebte mit Susanne teilen und reflektieren zu können, war ein Geschenk.

Unsere Tage waren geprägt von emotionalen Begegnungen, Einblicken in Gegenwart und Geschichte der Haudenosaunee. Die Wichtigsten habe ich im Artikel „Roadtrip mit einem Mohawk-Ältesten“ beschrieben.

Mein persönliches Motto des Jahres war „Ambivalenztoleranz“. Wie anfangs erwähnt, haben die weltpolitischen Ereignisse mich immer wieder in ein Gefühl von Hilfslosigkeit versetzt. Und wenige Momente später erlebte ich im Wald oder am Lagerfeuer berührende Augenblicke des Glücks.

Mein Familienalltag hat sich manchmal ähnlich widersprüchlich angefühlt. Alle Eltern kennen wahrscheinlich die vielen Herausforderungen, vor die unsere eigenen Kinder uns stellen können. Wir haben seit dem Sommer fünf davon zu Haus. Nach vielen Jahren als Ferienpapa ist mein ältester Sohn zu mir gezogen, um hier sein Abitur zu machen.

Sei Neben der Anstrengung gemeinsam mit meiner Frau den verschiedenen Bedürfnissen gerecht zu werden, haben wir täglich Situationen als Familie, die glücklich machen und uns stärken. Sei es die Freude, endlich für meinen Ältesten auch Alltagspapa zu sein, oder die vielen Momente, in denen ich meine Kinder beobachten kann, wie sie sich und die Welt entdecken. Es vergeht kein Familientag ohne ansteckendes Lachen, warmherzigen Erzählungen von eigenen Gedanken und Gefühlen, stürmischen Umarmungen oder ähnlichen Liebesbekundungen.

Ich sage Danke für jeden Augenblick in diesem Jahr. Während ich diese Zeilen schreibe, fallen mir unendlich viele weitere Momente ein, die das Jahr besonders gemacht haben. Egal ob es Freuden oder Herausforderungen waren, rückblickend fühlen sie sich alle wertvoll an.

Ich bin dankbar, dass der Winter die Zeit bietet zurückzuschauen, mich innerlich zu sortieren und das vergangene Jahr wertzuschätzen. Es wächst die Freude und auch die Ungeduld auf die bevorstehende Saison, die bereits von Amsel, Meise und Goldammer verkündet wird.

Das Motto des neuen Jahres ist „Innerlichkeit“, doch dazu mehr im nächsten Jahr.

„Wer das Richtige zu spät tut, tut doch das Falsche. Es ist die grausame Ironie dieser Übergangszeit,
dass es so lange weniger schlimm kommt als angekündigt, bis es schlimmer kommt als befürchtet.“
Peter Sloterdijk